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„Sicherheitspolitik in Europa – auf dem Weg zur strategischen Autonomie?“

Europa erlebe eine „Zeitenwende“ – so sagte es Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 in seiner bekannten Rede anlässlich des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Seitdem wird auch in Deutschland und in Europa vermehrt über Schützen- und Kampfpanzer, Munition und andere Ausrüstung diskutiert. Doch so richtig angekommen in der neuen Realität sind wir immer noch nicht, meint zumindest Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius. Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 forderte dieser einen „Mentalitätswechsel“ ein. „Wir müssen kriegstüchtig werden“, sagte Pistorius gegenüber dem ZDF.

Sowohl der Krieg in der Ukraine als auch der Konflikt im Nahen Osten beschäftigen aktuell viele Menschen. Darum haben sich die acht Europe-Direct-Zentren in NRW zusammengetan, um dem Thema einen geeigneten Raum zu geben. Rund 45 Teilnehmende schalteten sich am Abend des 2. November dazu, um die Einschätzung unserer Experten zu hören und um ihre Fragen zu stellen. Über Zoom diskutierten Politikwissenschaftler Dr. Sascha Arnautović, Experte für Außen- und Sicherheitspolitik, und der Politikwissenschaftler, Historiker und EU-Experte Siebo M. H. Janssen über die zukünftige europäische Sicherheitsarchitektur. Moderiert wurde die virtuelle Veranstaltung von Jochen Leyhe.

Sicherheitspolitik im Wandel

Direkt zu Beginn ging es um eine schmerzhafte Beobachtung: Jochen Leyhe beschrieb die optimistische Stimmung Anfang der Neunzigerjahre, als noch das Gefühl vorherrschte, „die liberalen Demokratien hätten gesiegt“. „Waren wir zu naiv?“, fragte Leyhe die beiden Experten.

„Aus heutiger Sicht natürlich schon!“, so Siebo Janssen. Dennoch sei der „Geschichtsoptimismus“ zu der Zeit durchaus berechtigt gewesen. Die Teilung der Sowjetunion in die Nachfolgestaaten sei weitestgehend friedlich verlaufen – und auch im Nahen Osten habe es entsprechende Friedensbemühungen zwischen Israel und Palästina gegeben. Doch die Jugoslawienkriege und die „Unfähigkeit der neu gegründeten EU, den Konflikt zu regulieren“, hätten diese positive Erzählung infrage gestellt. Dr. Sascha Arnautović fügte hinzu, dass seitdem neue Systemrivalen wie Russland und China aufgestiegen sind, welche „die liberale Ordnung der westlichen Staaten herausfordern“. Um darauf reagieren zu können, müssten Deutschland und die EU endlich ein „strategisches Denken“ entwickeln, so seine klare Forderung. Als Beispiel nannte Herr Dr. Arnautović die deutsche und europäische Energiepolitik, die „leichtgläubig und blind betrieben“ worden sei: „Das ist uns im Kontext des Ukraine-Kriegs dann um die Ohren geflogen“. Eine vorausschauende und strategische Politik sei wichtig, um glaubwürdig und vorbereitet zu sein – und um insbesondere ernst genommen zu werden.

Sicherheit, Verteidigung und diplomatische Vermittlung zusammendenken

Braucht es dazu auch ein eigenes Militär? „Die EU kommt nicht daran vorbei, sich mit sicherheitspolitischen und militärstrategischen Fragen auseinanderzusetzen“, so der Standpunkt von Dr. Arnautović in dieser Frage. Grund dafür sei in erster Linie, dass die USA ihren strategischen Fokus auf die Region Asien-Pazifik und zunehmend auch auf innenpolitische Themen richten würden. Deshalb müsse die EU lernen, ohne den „großen Bruder USA“ auszukommen. Dr. Sascha Arnautović erinnerte in diesem Zusammenhang an die EU-Verteidigungsinitiative „PESCO“. Solche Prozesse müssten an Dynamik gewinnen – dafür sei aber der entsprechende politische Wille erforderlich.

„Wir müssen auch die internationalen Vermittlungsorgane stärken“, fügte Siebo Janssen hinzu. Im Fokus habe er dabei die Vereinten Nationen. Nur mit einer stabilen internationalen Rechtsordnung sei ein „Dialog in einem unabhängigen und neutralen Forum“ und somit eine diplomatische Vermittlung in Kriegen und Konflikten möglich.

Könnte das auch eine Aufgabe für die EU sein? Jochen Leyhe wies auf das lange Ringen der EU-Staaten um eine gemeinsame Erklärung im Nahostkonflikt hin: „Jetzt gibt es schon Probleme, ob es nun ‚Pause‘ oder ‚Pausen‘ heißen soll. Man hat das Gefühl, die sind sich uneinig und spielen mal wieder keine Rolle.“ Herr Dr. Arnautović war dazu geteilter Meinung. Im Ukraine-Krieg habe es eine große Einigkeit der EU-Staaten gegeben, womit „Russland eigentlich nicht gerechnet hatte“. Laut Siebo Janssen besteht der Konflikt innerhalb der EU nicht darin, den Terror der Hamas zu verurteilen, wie es alle Mitgliedsländer getan haben, sondern darin, wieweit Israels Selbstverteidigungsrecht gehen dürfe. Deutschland und Österreich würden Israel dabei mehr Spielraum einräumen, während andere Staaten, vor allem südeuropäische Länder wie Spanien, dies kritisch sähen.

Sind andere Strategien endgültig gescheitert?

Immer wieder wurden auch Fragen von Zuschauer:innen im Chat gestellt. Eine davon war folgende: „Ist der ‚Wandel durch Annäherung‘ endgültig beerdigt worden?“ – Siebo Janssen stellte in Bezug auf die 1970er- und 1980er-Jahre fest, dass diese Politik der kulturellen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Sowjetunion durchaus erfolgreich gewesen sei. Aber: „Wir können heute nicht mehr zu dieser Politik zurück.“ Putin sei kein verlässlicher Partner mehr dafür. Spätestens seit der Annexion der Krim im Jahr 2014 hätte man dies erkennen müssen und handeln sollen. „Stattdessen hat man gesagt: ‚Putin ist vielleicht kein netter Kerl, aber der liefert uns preiswertes Gas, deshalb gehen wir den Weg weiter.‘ Das ist fatal!“, so Janssen.

Dr. Sascha Arnautović stellte in diesem Zuge erneut die Forderung eines „strategischen Denkens“ auf. So sei es ausgesprochen wichtig, sich frühzeitig darüber Gedanken zu machen, wie man mit einer möglichen Wiederwahl Donald Trumps zum US-Präsidenten umgehen würde in „EU-Europa“. Auch müsse eine „China-Strategie mit Augenmaß“ entwickelt werden. Siebo Janssen pflichtete dem bei. China agiere versteckter als Russland und könnte in zehn Jahren die gleiche militärische Stärke wie die USA erlangen. Dann sei auch ein Angriff Chinas auf Taiwan möglich. Zudem versuche China, seinen Einfluss weiter auszubauen, indem chinesische Konzerne beispielsweise Anteile an Hafenterminals und an anderer Infrastruktur kaufen. Darum forderte Janssen: „Wir müssen uns unabhängiger von China machen.“ Im Moment bleibe ein Zeitfenster von etwa zehn Jahren, in dem China noch abhängig von „unserer Ingenieurskunst und unseren Technologien“ sei. Dieses Know-how könne zum Beispiel nur unter der Bedingung weitergegeben werden, dass bestimmte Werte implementiert werden.

So zeigte sich am Ende der Online-Veranstaltung, dass trotz vieler Herausforderungen und komplexer Probleme auch viele Lösungsvorschläge auf dem Tisch liegen – auch wenn deren Umsetzung noch einige Zeit in Anspruch nehmen dürfte.

Wir bedanken uns recht herzlich für Ihre Teilnahme und Ihr Interesse! Die ganze Diskussion finden Sie noch einmal auf „YouTube“ unter: https://www.youtube.com/watch?v=Cp2H3EaRfJY.

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Rouven-Mathis Piesch

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